Ein Beispiel aus meiner Praxis:
Frau B. quälen auch drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes zahlreiche Schuldgedanken. Ihr Mann war im Alter von 73 Jahren nach einem Herzinfarkt und einer Corona-Erkrankung in der Klinik gestorben. Kurz zuvor hatte sie zu Hause die Rettung gerufen, obwohl er lieber daheim bleiben wollte. Aber Frau B. wusste sich nicht anders zu helfen, obwohl sie selbst früher als Krankenschwester gearbeitet hatte. "Wenn ich mutiger gewesen wäre, hätte ich meinem Mann besser bestehen können", so denkt sie. "Warum hatte ich ihn dem Klinikpersonal anvertraut und nicht selbst nachgefragt?" "Warum bin ich aus der Klinik weggegangen (sie durfte wegen der Coronagefahr nicht dort bleiben) und habe ihn nicht wieder mitgenommen?"
Solche und ähnliche Gedanken, Schuldgefühle und Schuldzuweisungen nach Trauer und Trauma quälten sie über Jahre hinweg.
Gedankenschleifen im Trauerprozess
Viele Trauernde erleben in ihrem Trauerprozess eine Phase, in der sie sich selbst in Frage stellen und sich Vorwürfe machen. Sie sind in Gedankenschleifen gefangen, in denen sie sich selbst bewerten oder abwerten. Sie halten sich für schuldig oder mitschuldig am Tod des geliebten Menschen. Daraus entstehen dann Gefühle wie Wut, Ärger oder Verzweiflung. Auch Depressionen können die Folge sein.
Den Trauernden von der Schuld freisprechen hilft nicht
Für Außenstehende wirken diese Interpretationen und Bewertungen häufig eigenartig, ja geradezu grotesk und sinnlos und sie versuchen, dem Trauernden diese Gedanken auszureden. „Das stimmt doch so nicht!“ oder „Das war doch nicht so schlimm“, „Jeder andere hätte auch so entschieden wie du!“ „Dafür kannst Du nichts, das waren die Umstände!“
Dies hat zur Folge, dass sich Trauernde nicht wirklich ernst genommen fühlen in ihrer Situation und dass sie unter diesen Ratschlägen leiden.
Welchen Zweck und Sinn könnten diese Schuldgefühle und Schuldzuweisungen bei Trauer und Trauma sich selbst und anderen gegenüber haben?
Wir gehen heute davon aus, dass die Muster und Prägungen, die wir nach traumatischen Lebensereignissen entwickeln, zunächst einmal Lösungsansätze für unsere Probleme darstellen. Wir machen also nichts „falsch“, wenn wir mit den Mitteln, die uns aktuell zur Verfügung stehen, eine Lösung entwickeln.
So können wir auch die Fragen nach Schuldgefühlen oder Schuldzuweisungen bei Trauer und Trauma zunächst als Lösungsansatz für ein inneres Problem verstehen. Sie haben für die Trauernde oder den Trauernden einen inneren Nutzen, der uns als Außenstehenden verborgen bleibt oder unsinnig erscheint und ihnen selbst nicht bewusst ist.
Welchen inneren Nutzen könnten solche Selbstvorwürfe oder Schuldzuweisungen an andere haben?
Fragt man einmal nach, wie es dem oder der Trauernden ohne diese Schuldzuweisungen oder Selbstvorwürfe ginge, erhält man häufig die erstaunliche Antwort: „Da wäre ja alles vorbei.“ oder „Da wäre mein geliebter Mensch ja endgültig ganz weg!“
Hier zeigt sich der Nutzen, die Funktion, dieses Musters. Der geliebte Mensch soll noch nicht so schnell gehen. Er soll doch bitte da bleiben. Ganz ohne ihn wäre alles noch viel schlimmer. Also quält man sich selbst, indem man sich vorwirft, man habe den Tod des geliebten Menschen in irgendeiner Weise mitverursacht. So konstruiert man sich eine bleibende, dauerhafte Verbindung. Dabei bleibt die Erinnerung an den geliebten Menschen wacher, er bleibt vermeintlich näher da. Der Preis, den der oder die Trauernde dafür zahlt, ist ein nicht enden wollender Schmerz. Aber man erreicht das Ziel: Die Verbindung hält - wenn auch krampfhaft und mit enormer innerer Anstrengung.
Wie darf sich diese Schmerzverbindung lösen?
Der Weg aus dem Dilemma heraus führt nicht über kognitive Erklärungen zur damaligen Situation, sondern über die Aktivierung von Erinnerungen an das Leben und Erleben mit dem geliebten Menschen. Wenn das Ziel ist, dass die Verbindung bestehen bleibt, kann man auch ein anderes Muster entwickeln, das den gleichen Nutzen bringt und der nicht über Selbstvorwürfe führt. Was verbindet uns mit dem geliebten Menschen, der nun nicht mehr da ist? Die Erinnerung an das gemeinsame Leben!
Im sich erinnern kann der Trauerprozess weiterfließen und die Verbindung, die Beziehung und die Liebe zu dem nahen Menschen weitergelebt werden.
Was hat Schuldübernahme mit Trauma zu tun?
In einer traumatischen Situation erleben wir uns als ohnmächtig und hilflos. Wir erleben uns als handlungsunfähig und sind gelähmt, starr vor Schreck. Der Volksmund sagt „uns gefriert das Blut in den Adern“, wir werden immobil.
Wenn wir als Trauernde diese Funktion, dieses Muster der Schuldübernahme wählen, bekommen wir plötzlich etwas in die Hand, mit dem wir uns vermeintlich gegen die Ohnmacht, gegen das Absolute wehren können. Wir halten daran fest: „Hätten wir gehandelt, wäre es nicht geschehen!“. Damit schaffen wir uns innerlich die Idee einer Handlungsfähigkeit, die es in Wahrheit gar nicht so gab.
Je plötzlicher der Tod kommt, desto ohnmächtiger und ungeschützter fühlen wir uns dem Geschehen ausgeliefert. Wir spüren plötzlich, dass wir in Wahrheit eben nicht der Herr über unser Leben sind, so wie wir das gern hätten. Wir fühlen uns in unserer Existenz bedroht. Lieber sind wir also schuld am Tod des geliebten Menschen, als dass wir uns ohnmächtig dem Geschehen ausgeliefert fühlen.
Wie lösen sich diese traumatischen Erfahrungen?
Für Menschen mit Traumatisierungen wird es zur Aufgabe, allmählich wieder ins Handeln zu kommen und sich selbst wieder als handlungsfähig und kreativ zu erleben. Aufgabe wird es sein, wieder zu lernen, selbst Gestalter des eigenen Lebens zu werden - trotz des Erlebens des Absoluten. Man kann allmählich aus dem tiefgefrorenen Zustand herauskommen und wieder mit den eigenen Ressourcen in Kontakt kommen. Die Integration der erlebten Traumata ist innerhalb der Trauer ein längerer, vielschichtiger Prozess, der auch von dem Vorerleben, der Resilienz des Betroffenen abhängt.
Hierzu stehen verschiedene Methoden innerhalb der Traumatherapie zur Verfügung, die über den Trauerprozess hinausgehen.
Ulrike Englmann Traumatherapie & Trauerbegleitung, Nürnberg Fürth Erlangen und online
Sie haben Fragen? Sie erreichen mich für eine Terminvereinbarung unter der E-Mail ulrike.englmann@gmail.com oder telefonisch unter 0160 90 700 600.