Spirituelle Angebote sind aus unserem Alltag kaum mehr wegzudenken. Was ist mit Spiritualität eigentlich gemeint?
Spiritualität, was meint das eigentlich?
Der Begriff Spiritualität ist zu einem Modewort geworden. Was ist eigentlich gemeint, wenn von Spiritualität gesprochen wird? Kann man Spiritualität überhaupt definieren? Hat der Begriff einfach den Begriff Glauben ersetzt? Eine Abgrenzung fällt schwer.
Der Duden bezeichnet Spiritualität als etwas Geistiges, als inneres Leben. Es mag also etwas Transzendentes gemeint sein, ein offenbar erstrebenswerter Zustand. Grundsätzlich kann spirituelles Erleben berührend und erhebend sein – oder manchmal auch beängstigend. Häufig wird von spirituellen Erfahrungen erwartet, dass sie frei machen von irdischen Zwängen und inneren Nöten, dass dabei tiefe Liebe, Verbundenheit und Gnade spürbar werden.
In jedem Fall bedeutet es Veränderung, wenn Menschen einem spirituellen Weg folgen. Sie wollen frei von ihrem Ego werden und probieren wir vieles aus. Gelingt dieser Weg, kann ein anhaltender Prozess der Transformation und Integration, eine Verinnerlichung, die Folge sein. Doch dabei gibt es auch manche Hürde.
Ist Spiritualität überhaupt im Alltag lebbar?
Ist so ein spiritueller Weg überhaupt im Alltag lebbar? Oder findet Spiritualität allein in den Momenten der Meditation und Besinnung statt? Vielleicht werden schnell herausragende spirituelle Erfahrungen gemacht, aber irgendwann kehrt das Alltagsleben zurück und Umstände und Anforderungen fühlen sich an wie ein Gefängnis, eine Einengung des Lebens. Meist sind es sind „die Anderen“, die einem das Leben schwer machen.
Diese äußeren Umstände sind dabei viel mehr ein Spiegel des eigenen inneren Zustands, als man glaubt. Diese inneren Empfindungen werden externalisiert und auf die Außenwelt projiziert. Auf diese Weise müssen Schmerz oder Angst nicht direkt empfunden werden und man beginnt, das Außen zu bekämpfen. So lassen sich innere Emotionen und vor allem die Auseinandersetzung damit, vermeiden.
Spirituelles Erleben kann zu einem Fluchtort werden. Dort gibt es eine „bessere Welt“, oder eben gar keine Welt mehr, nur noch Transzendenz. Dabei verlieren wir aus dem Blick, dass sich die Schatten in uns nur durch unsere eigene liebevolle Zuwendung zu uns selbst lösen können. Sie wollen wahrgenommen werden, Raum haben, bis unsere eigentliche Natur zum Vorschein kommt. Genau dorthin will ein spiritueller Weg führen: Ins Erkennen der wahren Natur des Menschen, ins geerdet sein.
Die Überwindung des Ego
Die meisten spirituellen Traditionen sehen im menschlichen Ego die Ursache für das Leiden und so soll es bekämpft werden und verschwinden. Begibt man sich auf diesen Weg, wird man sehr schnell spüren, dass sich eben dieses Ego durch Widerstand oder Negierung nicht auflösen lässt. Je mehr man es bekämpft und loswerden will, desto mehr widersteht es und am Ende ist es stärker als zuvor. Das Ego will keinen Schmerz erleben. Aber egal wie man es dreht, festgefahrene Denkweisen, früh erlernte Lebensmuster, Prägungen, verändern sich nur durch liebevolle Annahme, durch unser Verstehen und Aufnehmen aller damit verbundenen Gefühle. Ängste, Trauer, das getrennt sein, all dies will angenommen und gelebt werden und braucht einen Platz, bis es sich auflösen kann.
Ein riesiges spirituelles Angebot
Das spirituelle Angebot an Büchern, Kursen, unterschiedlichen Wegen und Konzepten ist in den vergangenen Jahren geradezu explodiert. Während man früher einen spirituellen Weg als Lebensinhalt begriff, dem man sich ganz hingab, auf dem man sich von einem erfahrenen Lehrmeister begleiten ließ, sind spirituelle Inhalte heute schnell und überall verfügbar. Man pickt sich heraus, was einem gefällt, was man gerade braucht und schnuppert in dies oder jenes hinein. Oft kommt es dabei zu einer Überforderung und auch zu spirituellen Krisen, weil die Erfahrungen, die gemacht werden, nicht integriert werden können. Spirituelle Praktiken sind kein Allheilmittel für alle Probleme.
Spirituelle Krisen
Auf viele Menschen wirken erste spirituelle Erfahrungen faszinierend. Sie werden davon angezogen und versprechen sich eine schnelle Veränderung ihrer Lebensumstände. Oft stellen sich auch die gewünschten Veränderungen ein, neue Lebensperspektiven eröffnen sich und die eigenen Lebensumstände können anders wahrgenommen und verstanden werden.
Dabei bleibt die bisherige Ich-Struktur jedoch erhalten und alle spirituellen Erlebnisse werden vor dem Hintergrund dieser Ich-Struktur interpretiert. Zunächst erscheint dies wenig problematisch. Wenn jedoch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich, dem Schatten, gar nicht oder nur in Teilen erfolgt, wird der spirituelle Weg zu einer Pseudo-Veranstaltung. Irgendwann landet man wieder in der altbekannten Lebensrealität, die man doch loswerden wollte. So muss beispielsweise Vergebung als echte Vergebung erfahren und gelebt werden. Sie kann nicht oberflächlich erfolgen, nur weil wir das für richtig halten. Die eigenen Verletzungen wollen gesehen und gewürdigt werden, ebenso wie unsere inneren Täteranteile.
Auch Alleinheitserfahrungen können missbräuchlich als Fluchtort genutzt werden. Man sucht diese Erfahrungen immer wieder neu, anstatt sie in das eigene Leben zu integrieren und die eigenen Wünsche und Bedürfnisse dabei wahrzunehmen.
Spirituelle Krisen können durch konkrete Ereignisse ausgelöst werden: Nach Nahtoderfahrungen kann es dazu kommen, dass den Betreffenden nichts mehr in ihrem Leben sinnvoll und erstrebenswert erscheint und sie sich nur noch diese Erfahrungen zurückwünschen.
Spirituelle Leistungsorientierung kann ein gravierendes Hindernis auf dem Weg darstellen, das die Sicht auf die eigenen Entwicklungsthemen verstellt. Es geht auf einem spirituellen Weg nicht um individuelle Spitzenleistungen. Man wünscht sich, das Leben und sich selbst auf diese Weise kontrollieren zu können und sieht sich als spirituellen Überflieger. Dies sind jedoch eher narzisstische Muster und das Gegenteil von Demut und Hingabe.
Auch kommt es vor, dass vereinzelte spirituelle Erfahrungen mit Erleuchtung gleichgesetzt. Man fühlt sich erhaben und macht sich etwas vor. Im schlimmsten Fall kann es zum Zusammenbruch der Ich-Struktur kommen und Wahnzustände oder Psychosen können eintreten.
Wie geht man mit spirituellen Krisen um?
Zunächst einmal ist es entscheidend, die jeweilige Ich-Struktur anzuschauen. Eigene Gefühle sollten wahrgenommen werden. Die Umwelt ist so wahrzunehmen wie sie ist, mit allen Nuancen und Feinheiten. Das Leben ist nicht schwarz oder weiß. Es ist wichtig, Grenzen zu spüren und zwischen sich und anderen unterscheiden zu können.
Letztlich ist es für das ganze Leben entscheidend, zu lernen, eigene Gefühle zu erkennen und sie auch halten zu können ohne sie herausschreien und uns davon steuern lassen zu müssen. Je schwächer die Ich-Struktur, desto wichtiger ist jetzt eine Stabilisierung.
Eine Stärkung der Ich-Struktur bedeutet nicht, das Ego zu stärken, sondern die Kontrolle über sich selbst zu haben. Ich-Strukturen lösen sich dann auf, wenn es gelingt, die fixierten Muster und Prägungen aufzulösen und der Liebe und Verbundenheit Raum zu geben. Wenn spirituelle Erfahrungen in dieser Weise in das Leben integriert werden können, entsteht eine Durchlässigkeit für das Transzendente, für transpersonale Erfahrungen. Wenn transpersonale Erfahrungen, der Konsum psychoaktiver Substanzen oder eine Fixierung auf Meditation zu einer Flucht aus dem Alltag werden, fehlt die Auseinandersetzung und das Arbeiten an der Ich-Struktur. Manchmal müssen auch traumatische Erfahrungen aufgearbeitet werden, bevor ein Weitergehen möglich wird.
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